Walter Manoschek

Der Fall Rechnitz

Das Massaker an Juden im März 1945

 17.00

Das Buch zum Thema Endphasenverbrechen in Österreich beschäftigt sich mit dem Mord an etwa 200 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern im burgenländischen Rechnitz, wenige Tage vor Einmarsch der Roten Armee im März 1945. Der Politikwissenschafter Manoschek als Herausgeber unternimmt erstmals die wissenschaftliche Aufarbeitung eines Verbrechens, das bis heute von vielen totgeschwiegen, geleugnet oder als Einzelfall abgetan wurde, in Wahrheit aber den Auftakt zu einer Serie von Massenverbrechen an Zwangsarbeitern bildet.
Ich habe ein Theaterstück ‚Rechnitz‘ geschrieben, ein Stück über etwas, von dem man kaum etwas wissen kann. (Elfriede Jelinek in „Im Zweifelsfall“, Vorwort zum diesem Buch) „14 Tage dauerte der Prozess, und es gelang dem Volksgericht nicht, festzustellen, wer wann wo anwesend war, wer was gesehen oder gewusst, wer mehr, wer weniger, wer gar nicht mitgemordet hatte.““ (Hellmut Butterweck zum Rechnitzer Volksgerichtsprozess 1948)
In diesem brisanten Buch geht es nicht nur um die historische Rekonstruktion dessen, was sich in der Nacht des 24. März 1945 in Rechnitz zugetragen hat. Ein ebenso wichtiger Aspekt ist die lückenlose Analyse dessen, wie die österreichische Gesellschaft mit diesem Massaker in den letzten sechs Jahrzehnten umgegangen ist, was unternommen wurde, um das Massengrab zu finden und die Namen der Ermordeten zu eruieren. Jedoch: Zu viele Einheimische waren involviert, zu viele wussten und wissen davon, als dass eine offene Auseinandersetzung um diesen Massenmord bis heute stattgefunden hätte.
Das Massaker von Rechnitz – kein isoliertes Phänomen Eine alkoholgetränkte Orgie von Nazi-Bonzen in Endzeitstimmung, die auf dem Schloss einer dekadenten Adelsfamilie in der willkürlichen Tötung hunderter wehrloser Menschen gipfelte – mit der Sex-and-Crime-Story des britischen Historikers David Litchfield gelangte das Massaker von Rechnitz vor Kurzem auch in Österreich ins öffentliche Bewusstsein. Doch diese Interpretation des Massenmordes als isoliertes Phänomen greift zu kurz: Der Mord an den nicht mehr marsch- und arbeitsfähigen Juden markierte vielmehr den Beginn von Massenverbrechen an jenen jüdischen Zwangsarbeitern, die seit Ende 1944 zu Zehntausenden aus Ungarn zum Südostwallbau an die burgenländisch-ungarische Grenze deportiert worden waren. Rätsel Rechnitz bleibt ungelöst Durch die Analyse der Gerichtsunterlagen erbringt das Buch den Nachweis, dass der vom Volksgericht angenommene Tathergang, wie in der Urteilsbegründung niedergeschrieben, nicht vollständig der Aktenlage entspricht. Ungereimtheiten, die vom Gericht nicht weiter berücksichtigt wurden, lassen Interpretationen zu, die auf noch größere Verbrechen schließen lassen, als schon allgemein bekannt sind: In der Frage nach der Verantwortung für die Ereignisse in Rechnitz finden sich in den Gerichtsakten keine konkreten Beweise, die für eine über den lokalen Bereich hinausgehende Befehlskette sprechen würden. Eine Analyse der Aussagen ergibt aber deutliche Indizien für eine zumindest auf Kreisebene organisierte Aktion. Die Ursachen für die Schwierigkeiten des Volksgerichts, den wahren Sachverhalt festzustellen, hängt mit dem
Umstand der Vergesslichkeit und den sich ständig ändernden Aussagen von Zeugen und Angeklagten zusammen. In den Aussagen lässt sich kaum Mitgefühl mit den Opfern nachvollziehen, sondern mehr das Bestreben, Angeklagte zu entlasten. Die Gräber der Ermordeten konnten trotz aufwändiger Suche bis heute nicht gefunden werden. Die Suche nach dem Massengrab ist allerdings nur ein Teilaspekt der Tragödie von Rechnitz.
Manoschek fragt erstmals auch nach den Opfern: Wie lauten ihre Namen, wer sind sie gewesen, welche Lebensgeschichten hatten sie, bevor sie grausam getötet wurden? Wie ist die Ortsgemeinschaft, wie ist Österreich mit diesem Verbrechen umgegangen? Lässt sich die Mauer des Schweigens durchbrechen?